Merz macht’s wie Merkel: Wer Kanzler werden will, muss Glaubenssätze über Bord werfen
„Es muss halt auch passen, sonst macht es keinen Sinn“ – so hat Carsten Linnemann seinen Verzicht auf ein Ministeramt in der künftigen Bundesregierung erklärt. Was generös klingt, ist in Wahrheit das Eingeständnis eines Scheiterns. Linnemann hat als CDU-Generalsekretär in den vergangenen Monaten unerfüllbare Erwartungen geweckt, ein gefährliches Manöver mit der AfD vorangetrieben und ein miserables Wahlergebnis zu verantworten.
Er war der geistige Vater der großspurigen Ankündigungen, mit einer CDU/CSU-geführten Regierung werde sich die Politik im Handumdrehen, zu 100 Prozent und natürlich gleich am „Tag Eins“ ändern. „Wir ziehen das durch“, sagte Linnemann noch im Januar über den Fünf-Punkte-Plan der CDU/CSU zur Migrationspolitik. Wenn es für diesen Plan „keinen Koalitionspartner gibt, der da mitgeht, dann können wir halt nicht regieren“. Ganz oder gar nicht. Mein Weg oder kein Weg.
Willkommen in der Sackgasse! Selten gab es so viel Rigorismus wie bei dem – von Friedrich Merz ausgewählten – CDU-Generalsekretär Linnemann. „Einfach mal machen“ lautete sein Motto. Er beschwor eine „Einfach-mal-machen-Koalition“. Das Schlimme an all dem: Merz ließ sich von dieser Rhetorik anstecken.
Merz wies, wie Linnemann, wider besseres Wissen alle vernünftigen Vorschläge von CDU-Regierungschefs zur Reform der Schuldenbremse zurück. Merz entschied sich, angestachelt von Linnemann, zu dem waghalsig-sinnlosen Manöver, kurz vor der Wahl eine folgenlose Resolution mit Stimmen der AfD durchs Parlament zu boxen. Merz führte einen miserablen Wahlkampf (Organisation: Linnemann), mit dem die Union kümmerliche 28,6 Prozent holte. „Wir müssen deutlich mehr als 30 Prozent bekommen“ hatte Linnemann im Wahlkampf getönt und 35 Prozent plus X als Ziel ausgegeben.

Daniel Friedrich Sturm Daniel Friedrich Sturm gehört seit Januar 2025 der erweiterten Chefredaktion des Tagesspiegel an. Bereits seit April 2023 leitet er das Tagesspiegel-Hauptstadtbüro und berichtet vor allem über den Bundeskanzler und die SPD. Zuvor war er Verantwortlicher Redakteur für „Welt“ und „Welt am Sonntag“, von 2018 bis 2023 deren USA-Korrespondent. Sturm begann seine journalistische Laufbahn im Alter von 15 Jahren als Lokalreporter der „Münsterschen Zeitung“. Er studierte Politische Wissenschaft an der Universität Bonn. Für seine Dissertation über die SPD und die Vereinigung Deutschlands 1989/90 erhielt er den Willy-Brandt-Preis. Seit vielen Jahren beobachtet und beschreibt er die Sozialdemokraten und hat mehrere Bücher über sie verfasst.
Von wegen „einfach mal machen“. Während die CDU noch immer auf selbstkritische Worte Linnemanns zum miserablen Wahlergebnis wartet, verständigte sich Merz zusammen mit Politik-Profi Alexander Dobrindt und der SPD auf eine Reform der Schuldenbremse und das 500-Milliarden-Euro-Sondervermögen. Linnemann war da längst außen vor. Seine Schmerzen über die Entscheidung und, ja, das von Merz gebrochene Wort sind ihm körperlich anzusehen.
Ein Parteivorsitzender muss tun, was ein Parteivorsitzender tun muss
Mit dem Wunsch, Kanzler zu werden, und der Betrachtung der politischen Wirklichkeit vermeidet Merz hingegen nach dem Wahlabend nahezu jedwede Wahlkampfrhetorik. Stattdessen führte er seine Partei, sekundiert von Markus Söders CSU, in Sondierungen und Koalitionsverhandlungen mit der SPD.
Merz tat das, was Parteivorsitzende tun, wenn sie Kanzler werden wollen und dazu Partner benötigen: Er gab politische Positionen – „CDU pur“ – auf, relativierte parteipolitische Dogmen und baute Brücken zur SPD. Merz wurde politischer Zentrist, während Linnemann Dogmatiker blieb. Er verprellte damit die Lordsiegelbewahrer der Schuldenbremse und vor allem all jene in der CDU, die sich als gesellschaftlich konservativ und wirtschaftsliberal verstehen.
Ausgerechnet also jene etwa aus dem Umfeld der Mittelstands- und Wirtschaftsunion MIT (einstiger Vorsitzender: Linnemann), die Merz nach 16 Jahren Angela Merkel und in drei Jahren Olaf Scholz als ihren Weltenretter auserkoren hatten.
Diese einstigen „Merz-Ultras“ erleben nun, dass Merz Positionen im Zweifel schneller wechselt als seine Maßhemden und, weit schlimmer für sie, noch schneller als Angela Merkel. Die Merkelianer in der CDU applaudieren Merz, sehen mit Freude, wie er, spät, aber immerhin, zur Realpolitik findet. Zugespitzt: Merz verprellt den Merz-Flügel und erfreut den Merkel-Flügel.
Dabei hält es Merz klugerweise schlicht so wie einst Merkel und Gerhard Schröder: Wer Kanzler werden will, ist nicht bloß Kanzler der eigenen Partei, sondern mindestens einer Koalition, wenn nicht gar für das ganze Volk.
In Deutschland, wo glücklicherweise das Verhältniswahlrecht herrscht, es mehr als nur zwei Parteien gibt und Koalitionen im Bund erforderlich sind, gilt: Wer Kanzler werden und sein will, muss eigene parteipolitische Glaubenssätze über Bord werfen. Das ist kein Opportunismus. Nein, das nennt man Politik.