„Würde die Rechte der Verbraucher massiv schwächen“: Ministerin Lemke warnt vor Reform der Fluggastrechte
Verbraucherschutzministerin Steffi Lemke (Grüne) wendet sich gegen in Brüssel diskutierte Pläne, Fluggästen künftig erst ab einer Verspätung von fünf Stunden eine Entschädigung der Airline zuzugestehen. „Der aktuelle Vorschlag würde de facto die derzeitigen Fluggastrechte aushebeln und damit die Rechte der Verbraucher massiv schwächen“, sagte Lemke dem Tagesspiegel.
Dass bei Flügen erst ab fünf Stunden eine Entschädigung gezahlt werden solle, sei nicht hinnehmbar. „Damit würden bis zu 80 Prozent der Fluggäste bei Verspätungen leer ausgehen.“
Die geschäftsführende Verbraucherschutzministerin reagiert damit auf Pläne der polnischen EU-Ratspräsidentschaft, die EU-Fluggastrechteverordnung aus dem Jahr 2004 zu überarbeiten. Diese sieht vor, dass Passagiere von ihren Airlines bei einer Verspätung von mindestens drei Stunden bei einer Fluglänge unter 1500 Kilometer bis zu 250 Euro erhalten.
Bei mehr als 1500 Kilometer sind es sogar 400 Euro. Bei Fernreisen über 3500 Kilometer werden bis zu 600 Euro Entschädigung fällig.
Die polnische Regierung will einen Änderungsvorschlag der EU-Kommission aus dem Jahr 2013 umsetzen, wonach es je nach Entfernung erst ab einer Verspätung von fünf, neun oder zwölf Stunden eine Entschädigung geben soll. „Es kann nicht sein, dass Verspätungen von bis zu fünf Stunden zum Normalfall erklärt werden“, sagte Lemke.

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Für den Änderungsvorschlag betreibt der Luftfahrt-Verband Airlines for Europe (A4E) seit langem hartes Lobbying. Die Airlines stören sich an den hohen Kosten für Entschädigungen. Sie sind gestiegen, seitdem Rechtsdienstleister anstelle der Verbraucher die Entschädigungen vor Gerichten einklagen.
Hinzu kommt, dass die Airlines nach der Corona-Pandemie mit ungewöhnlich vielen Verspätungen zu kämpfen hatten. Laut dem Fluggastrechteportal Airhelp waren 2024 europaweit 30 Prozent aller Passagiere von Verspätungen und Flugausfällen betroffen.
Die Airlines ärgern sich auch darüber, dass die Entschädigungen gegebenenfalls die Kosten für das Ticket vielfach übersteigen. Bei einem Gipfeltreffen von A4E Ende März soll Ryanair-CEO Michael O’Leary von „einem verdammten Betrug“ gesprochen haben, der vor allem spezialisierte Anwaltskanzleien begünstige, berichtete der Branchendienst „Aviation Direct“.
Luftfahrtverband spricht von fairem Ausgleich
Der deutsche Luftfahrtverband BDL und der Branchenprimus Lufthansa erkennen in den Reformvorschlägen der polnischen EU-Ratspräsidentschaft auf Anfrage einen faireren Ausgleich zwischen den Interessen von Passagieren und Fluggesellschaften. Die auf fünf, neun und zwölf Stunden angepassten Entschädigungsschwellen berücksichtigten den tatsächlichen operativen Aufwand besser, um als Fluggesellschaft im Störungsfall eine angemessene Weiterreise der Passagiere organisieren zu können. „Sie setzen realistische Zeitmarken, zum Beispiel um ein Ersatzflugzeug zu beschaffen, Umbuchungen vorzunehmen oder das betroffene Flugzeug zu reparieren.“
BDL und Lufthansa begrüßten auch, dass künftig eine „verbindliche Liste außergewöhnlicher Umstände“ festgeschrieben werden soll. Bei höherer Gewalt müssen die Airlines nicht zahlen. Wann diese Regelung greift, ist allerdings umstritten, was zu vielen Gerichtsverfahren führt.
Bei den Verbrauchern stoßen die Airlines mit ihren Änderungswünschen auf Unverständnis. Laut einer repräsentativen Forsa-Umfrage für den Bundesverband der Verbraucherzentrale (vzbv) wünschen sich 90 Prozent von ihnen, dass sie bei Verspätungen und Flugausfällen angemessen entschädigt werden.
„Die drohenden Änderungen der Fluggastrechte wären eine ziemliche Bruchlandung für die geltenden Rechte der Flugreisenden“, sagte Jutta Gurkmann, Bereichsleiterin Verbraucherpolitik des vzbv, dem Tagesspiegel. Sie fordert die künftige Bundesregierung auf, sich in Brüssel dafür einzusetzen, „das bestehende Schutzniveau gesetzlich zu verankern und auszuweiten“.
Die polnische Ratspräsidentschaft zielt laut Beobachtern auf einen schnellen Abschluss der Verhandlungen ab. Deutschland hat in der Frage bisher keine eindeutige Position.
„Der Bundesregierung ist bei der Überarbeitung der EU-Fluggastrechteverordnung sowohl eine ambitionierte Gestaltung des Verbraucherschutzniveaus als auch ein angemessener Ausgleich mit den Interessen der Luftverkehrswirtschaft wichtig“, teilte ein Sprecher des Verkehrsministeriums dem Tagesspiegel mit. Im Rat der Mitgliedsstaaten scheint eine Mehrheit für eine Reform zugunsten der Airlines Beobachtern als denkbar.
Wie sich das EU-Parlament verhalten würde, ist offen. CDU-Verkehrspolitiker Jens Gieseke begrüßte auf Anfrage die polnische Initiative, da die bestehenden Regelungen zum Teil überholt seien. „Über die inhaltlichen Differenzen werden wir dann hoffentlich bald in den Trilogen verhandeln können“, erklärte der Europaabgeordnete. In dem Format suchen Kommission, Rat und EU-Parlament einen Kompromiss in strittigen Gesetzgebungsverfahren.